Das Traumgesicht
Auszug aus: “DAS TRAUMGESICHT” des Josef Anderheyden*
In Kalkar, dem vielgepriesenen nieder-rheinischen Städtchen, geht die Über-lieferung, Meister Jan Joest, genannt, Jan van Kalkar, der Schöpfer der berühmten Tafeln des Hochaltares, sei ein gar leichtfertiger und leichtlebiger Künstler gewesen.
Seine Verschwendungssucht habe ihn soweit gebracht, daß er der Bäckersfrau die Brötchen, die jeden Morgen geliefert wurden, trotz häufiger Mahnungen seit langer Zeit schuldig geblieben, so daß diese ihn kurzerhand pfänden ließ. Das habe den berühmten Künstler derart gewurmt, daß er in heller Empörung jene Frau, wie sie lebte und leibte, in die Zuschauermenge auf den Altartafeln hineinmalte.
Beleidigt und empört, verklagte die Bäckersfrau den Maler bei den Kalkarer Schöffen, die, in einer Gerichtsverhandlung den Meister Jan Joest auf das Verwerfliche seiner Handlungsweise hinweisend, ihn fragten, wie er dazu komme, eine angesehene Bürgerin in einer solchen Weise vor der ganzen Stadt bloßzustellen.
Der Künstler erklärte, so sei ihm im Traumgesicht die Frau des Pilatus erschienen, und er habe also nach dem Willen des Himmels gemalt. Was wollten die Schöffen anders tun als Jan Joest freisprechen! So steht nun seit fünfhundert Jahren mit der Knippmütz' und einem neugierigen Gesicht die Bäckersfrau auf dem Altarbild. –
*Pfarrer Josef Anderheyden war ein Kunstbeflissener in der Kirchenmalerei des Niederrheins
Quelle: Heribert Teggers, Kalender für das Kleverland 1951, Seite74